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5. November 2014

Stromsparen in Ex-Jugoslawien

Das Billigstromangebot des Genossen Tito im Sarajevo von heute

Bei uns zu Hause gibt es zwei Rituale, die wir pflegen. Das erste Ritual ist urbosnisch: Den Tag mit bosnischem Kaffee anfangen.
Die zweite Gewohnheit haben wir bei unseren Müttern im sozialistischen Jugoslawien gelernt: Den Warmwasserspeicher immer abends vor dem Schlafengehen anmachen.
Der Genosse Tito hat für seine Arbeiterklasse gesorgt, indem er ihr nachts, sonntags und um die Mittagszeit 3 Stunden den Strom für den halben Preis bietet.
Bei “Jeftina struja“ bzw. beim Billigstrom hat meine Mutter nicht nur den Warmwasserspeicher angemacht, sondern auch Waschmaschine, Bügeleisen, Herd, Ofen und Staubsauger.
Titos Jugoslawien ist auseinandergefallen, aber das Billigstromangebot hat in fast allen ex-jugoslawischen Teilrepubliken mehr oder weniger überlebt. Bonus für Bosnien: Wir haben auch 3 Stunden tagsüber diese Sparmöglichkeit, die anderen nur noch nachts.
In Bosnien sind viele Menschen arm und können ihre Rechnungen für Wasser oder Heizung oft nicht rechtzeitig bezahlen.
Ohne Wasser und Heizung dürfen sie laut Gesetz nicht bleiben, das ist Grundversorgung die ihnen niemand verweigern kann.
Die Heizkraftwerke tolerieren die Schulden oft mehrere Monate lang, denn sie wissen gut, mit welchen finanziellen Problemen die Menschen hier zu kämpfen haben. Außerdem ist das Ausschalten der Heizung für einen Haushalt oft mit viel Arbeits- und Zeitaufwand verbunden, so dass sie selbst mit dieser Toleranz viel Geld sparen.
Mit dem Strom ist es anders. Jeder hat seinen eigenen Zähler und da sind die Eintreiber unbarmherzig. Sobald die Stromschulden mehr als 30 Tage nicht bezahlt wurden, wird der Strom ausgeschaltet. Man muss dann nicht nur die Schulden, sondern auch 20 Euro für das Neueinschalten zahlen.
Deshalb arbeiten viele Wasserboiler, Waschmaschinen und Geschirrspüler in Bosnien während ihre Besitzer schlafen, in der Billigstromzeit. Das spart Geld.

Mitarbeit: Eldina Jasarevic

Billigstrom in Mazedonien durch österreichischen Stromversorger EVN gestrichen – Roma-Band „elektrisiert“

https://www.youtube.com/watch?v=GJ4Uom4KL0g

Seit den jugoslawischen Zeiten war in Mazedonien nicht nur nachts und Sonntags der Strom um die Hälfte billiger, sondern auch tagsüber von 13 bis 16 Uhr. In dieser Zeit herrschte in den mazedonischen Haushalten Hochbetrieb. Die Waschmaschinen schleuderten die Wäsche, Warmwasser-Boiler liefen heiß und auf den Elektroherden köchelte das Essen, das Punkt 16 Uhr, wenn der Strom wieder teurer wurde, fertig auf den Tisch kam. Dieser Rhythmus prägte vor allem den Alltag der ärmeren Familien, die auf ihr Geld peinlichst genau achten mussten. Am 2. August 2012 wurde über Nacht alles anders. Der österreichische Stromkonzern ENV, der den staatlichen Stromversorger Mazedoniens schon vor Jahren aufgekauft hatte, strich den Billigstrom tagsüber. Gerüchten zufolge soll gerade der 2.August für diese Aktion gewählt worden sein, ein Nationalfeiertag, an dem ohnehin alle Mazedonier auf den Straßen feiern, niemand kocht und wäscht oder gar protestiert. Die Lebensgewohnheiten vieler, die an der Armutsgrenze leben, haben sich seitdem geändert. Jetzt wird das Mittagessen abends um 22 Uhr gekocht und tags darauf nur noch schnell aufgewärmt. Gebadet wird oft nur noch am Sonntag, wenn der Strom billiger ist und genügend Wasser in den Boilern erhitzt werden , damit es für die ganze Familie reicht. Die Roma-Band „Orkestar Evropa“ aus dem überwiegend von Roma besiedelten Stadtteil Sutka in Skopje hat das „Unheil“ schon lange kommen sehen und fleht in ihrem Song den österreichischen Stromversorger EVN an: “ „Lieber Onkel, bitte dreh mir den Strom nicht ab! Onkel, bitte nicht, ich habe keinen Strom“.

Mitarbeit: Sasko Golov

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