Auf den ersten Blick scheint Gevgelija im Südosten Mazedoniens eine normale Kleinstadt an der Grenze zu sein: Umgeben von Bergen, Weinreben und Obstgärten. Doch sobald man sich dem Bahnhof nähert, ändert sich das Bild: Überall lagern Flüchtlinge – Frauen mit Kopftuch, Kinder, junge, dunkelhäutige Männer. Besonders voll wurde es am vergangenen Samstag, als Hunderte den Stacheldrahtzaun zwischen Mazedonien und Griechenland stürmten – trotz Blendgranaten und Schlagstöcken.
Einige zeigen ihre Wunden, fragen: „Why? Warum ?“ Die meisten der Flüchtlinge in Gevgelija kommen aus dem Krieg, aus umkämpften Städten wie Aleppo oder der IS-Hochburg Rakka. Eine ganze Nacht mussten diese Menschen im Niemandsland, bei Regen verbringen. Plötzlich stehen sie wieder Soldaten und Polizisten gegenüber. Warum ? Weil Griechenland überfordert ist, die Flüchtlinge nach Mazedonien lässt, Mazedonien überfordert ist, den Notstand ausruft, und so fort. Flüchtlinge sind wie eine heiße Kartoffel, die von Land zu Land weiter gegeben wird.
Weinende Menschen kommen uns auf dem Bahndamm in Richtung Bahnhof entgegen: Eine junge Syrerin schluchzt hemmungslos. „Baby, Baby“, sagt sie immer wieder und zeigt auf den Stacheldraht. Ihr Begleiter erklärt: Im Chaos ist das Kind in Griechenland zurück geblieben. Die Mutter ist bereits in Mazedonien. „Help“, fleht uns der Begleiter an. Wir versprechen zu tun, was in unserer Macht steht. Ein Polizist herrscht uns an: „Macht gefälligst Euren Job als Journalisten“.
Doch was bin ich in so einer Situation? Journalist? Mensch? Ich habe selbst drei Kinder. Mir geht die Situation nahe. Wir sprechen die Sprecherin des UNHCR darauf an, die wir am Stacheldrahtzaun treffen. Während wir reden, wird eine kollabierte Frau von Rot-Kreuz-Helfern versorgt. Alexandra Krause vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen kennt das Problem mit den verlorenen Kindern. „Sie reichen sie nach vorne, auch Alte und Kranke“. Sie empfiehlt der jungen Mutter, zum Bahnhof zu gehen. „Dort kümmern wir uns um die Familienzusammenführung“, sagt die UNHCR-Sprecherin, die genauso erschöpft wirkt wie die Flüchtlinge. Schwer kommen ihr die Worte über die Lippen. Später sehen wir die junge Syrerin wieder – zusammen mit ihrer fünfjährigen Tochter.
Die Geschichten der Menschen gleichen sich: Sie sind über die Türkei und Griechenland nach Mazedonien gekommen. Für die Fahrt in einem wackeligen Schlauchboot haben ihnen Schlepper 1200 Euro abgeknöpft. Auch am Bahnhof von Gevgelija wird aus der Not der Menschen ein Geschäft gemacht. Die Ärmsten der Armen, die Roma, versuchen, etwas Geld zu verdienen: Sie verkaufen Bananen, Sandwiches, Tee, Kaffee, Zigaretten, einmal Handy aufladen kostet zwei Euro. Und die Preise richten sich nach der Nachfrage: Für eine Taxi-Fahrt an die serbische Grenze wollen die Fahrer am Samstagmittag 25 Euro pro Person, einen Tag später sind es schon 70.
Tausende Flüchtlinge in einer 23.000-Einwohner-Stadt – das bedeutet Müll, Lärm, Chaos, viele Fremde im engsten Umfeld. Das bedeutet jeden Tag: Elend zu sehen, Hilfesuchende. Bauer Andjel hat zwar Mitleid, allerdings haben ihm die ausgehungerten Flüchtlinge die Weinreben kahl gegessen. „Und so geht es vielen Nachbarn“, meint der 66-jährige. „Wovon soll ich jetzt meine Kinder ernähren?“, fragt er.
Es riecht sauer auf dem Bahnhof von Gevgelija, nach Tagelang- Nicht –Waschen- Können. An einem Brunnen auf dem Bahnsteig waschen sich die Flüchtlinge die Füße, überall lagern erschöpfte Menschen, viele husten. Gerade mal zwölf mobile Toiletten habe ich am Bahnhof von Gevgelija gezählt: Für Tausende. Zwischen den Weingärten arbeiten die Bagger schon an einem Flüchtlingslager – für bis zu 5000 Menschen.

Am Stacheldraht-Zaun an der Grenze zu Griechenland schieben Bagger das zusammen, was die Flüchtlinge zurück lassen: Schmutzige Schlafsäcke und Regen-Capes, leere Plastikflaschen, Windeln, Einmann-Zelte, Decken, sogar Rasierzeug – alles Ballast auf dem weiteren Weg.
Die meisten wollen nach Deutschland oder nach Skandinavien. Und alle wissen: Das Nadelöhr ist Ungarn – die Schengen-Außengrenze. „Wir haben davon gehört, dass dort ein Zaun gebaut wird“, sagt Halid aus Aleppo. „Deswegen müssen wir uns beeilen“. Ende des Monats soll der Zaun fertig sein. Die Flüchtlingskarawane zieht weiter – ein Ende ist nicht abzusehen.
http://youtu.be/M3q8UZqPAe4?hd=1
Beitrag: Till Rüger | Schnitt: Roland Buzzi
Der Flüchtlingszug ist weitermarschiert an die mazedonisch-serbische Grenze:
http://youtu.be/NJTMUs0xEmY?hd=1
Beitrag: Darko Jakovljevic | Kamera: Zarko Bogdanovic | Schnitt: Christine Dériaz







