Jahresrückblick von Stephan Ozsváth
Das Jahr 2015 begann mit einem Terroranschlag: In Paris zwar,
aber noch vor Ort, nach der Solidaritäts-Demonstration der
Regierungschefs, gab der ungarische Ministerpräsident Viktor
Orban das Thema des Jahres vor: Flüchtlinge.
Orban setzte seine Marke: Er wolle „Ungarn den Ungarn“ erhalten,
sagte er einem Reporter ins Mikrophon. Orban ließ einen Zaun
gegen Flüchtlinge errichten, die zu Tausenden nach Europa
strömten und strömen. Den ganzen Sommer über verkaufte sich der
Ungar als Retter der EU-Außengrenzen, dabei ging es ihm doch nur
um eins: Ungarn frei von Flüchtlingen zu machen. Das ist ihm
gelungen. Gerade wurde das größte Flüchtlingslager in Debrecen
geschlossen.
Orban hat durch seinen Zaun die Flüchtlingsrouten umgelenkt, im Süden des Landes machte er den Sack zu, im Norden ließ er die Flüchtlinge ungehindert weiter reisen: Nach Österreich. Mittlerweile lässt er Häftlinge den Nato-Draht produzieren – er exportiert sein Zaun-Modell – und verdient daran. Clever.
Es war ein anstrengendes Jahr. Auch für uns Korrespondenten.
Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge. Manche Arbeitstage am
ungarischen Zaun begannen morgens um fünf und endeten nicht vor
Mitternacht. Dazwischen: Senden, Senden, Senden.
An der serbisch-ungarischen Grenze, am Budapester Ostbahnhof, im
mazedonischen Gevgelija, in Nickelsdorf, am Wiener Westbahnhof,
im slowenischen Dobova…. Gesendet habe ich von überall: Aus dem
Auto an der Autobahn-Raststätte, aus dem Bahnhofsrestaurant, aus
einem Café, aus Hotels….
Das Jahr 2015 hat für mich einen Geruch: Saurer Schweiß. Er hing
in allen Auffanglagern, lag wie Nebelschwaden über dem Bahnhof
von Gevgelija, oder im Zug von Budapest nach Wien. Er erzählt
viel über die Flucht: Menschen, die bis zu 50 Kilometer am Tag
zu Fuß laufen. In dem, was sie am Leib haben.
Unvergessen der Moment in Gevgelija, als eine junge Syrerin ihre
kleine Tochter verlor: Sie war in Griechenland geblieben. Das
ist mir nahe gegangen – ich habe selbst drei Töchter, ich
verstehe, wie verzweifelt so eine Mutter sein muss.
Unvergessen auch der Moment auf einem Maisfeld bei Röszke:
Interview mit einem syrischen Familienvater auf den Gleisen.
Eine seiner vier Töchter bietet mir Kekse an: Eine Geste der
Gastfreundschaft mitten im Niemandsland.
In Slowenien wollten die Flüchtlinge schon gar nicht mehr mit
mir reden: Total apathisch und erschöpft bestiegen sie die
Busse, die sie an die österreichische Grenze bringen sollten.
Nur weiter. Immer weiter.
Hunderttausende sind seit dem Sommer durch Mazedonien, Serbien,
Ungarn, Kroatien, Slowenien, Österreich gekommen – all diese
Länder gehören zu unserem Berichtsgebiet. Die Nachfrage nach
Reportagen, nach Erklärungen, blieb über viele Wochen sehr hoch.
Schaffen wir das? Wir haben es geschafft. Auch dank der
Verstärkung im Studio. Wertvoll in diesen Wochen: Ein
aufmunterndes Wort, ein Lob aus der Redaktion. Auch das lädt die
Akkus wieder auf.
Und was war noch? Im Frühjahr war ich Sonja Karadzic begegnet,
der Tochter des bosnischen Kriegsverbrechers, dem in Den Haag
der Prozess gemacht wird. Akribische Interview-Vorbereitung,
mein erster Fernseh-Dreh mit Team, kein einfacher Dreh – auch
nicht für unsere bosnische Kollegin Eldina, die während der
Belagerung Sarajevos in der Stadt ausgeharrt hatte. Sonja
Karadzic behauptete, ihre Familie hätte „soviel Gutes getan“ und
die Massaker von Srebrenica seien eine Inszenierung der
Amerikaner gewesen. Schwer auszuhalten.
Wunderbar dagegen die Begegnung mit Jovan Mirilo und seiner Frau
Dragana. Sie leben heute in Österreich, weil sie in Serbien
bedroht wurden: Jovan hatte ein Erschießungsvideo aus Bosnien an
die Öffentlichkeit gebracht: Ein wichtiges Beweismittel. Jovan –
ein Held. Für manche Serben: ein Verräter.
Dreharbeiten? Im Radio? Richtig gelesen. Das Projekt selbst war
auch etwas Besonderes: Erstmals haben wir Radio-Korrespondenten
Fernsehen gemacht, die Fernsehkollegen Radio und wir alle
zusammen ein Web-Special zu den „Schatten von Srebrenica“. Wir
wurden zu „trimedialen Korrespondenten“.
Mein persönliches Highlight in diesem Jahr.